Pater Pio war der Welt als der stigmatisierte Kapuziner bekannt und so wird es immer bleiben. Der Herr wollte an ihm die Zeichen seiner Kreuzigung sichtbar machen, hielt aber dieses Geheimnis vor allen, auch vor Pater Pio, verborgen, wie dieser selbst einmal schrieb: „Ich bin mir selbst ein Rätsel.“ Er versuchte immer, alles zu verbergen: seine Stigmata und seine Wunden, das Geheimnis seiner Kreuzigung und seine „erhabene Sendung“ im Laufe der Geschichte von Kirche und Welt.
Ich sah Pater Pio weinen und beten; ich sah ihn bluten und Ungeheures erleiden. Seinen Geist jedoch, der eingetaucht war in die Schmach des Kreuzes, vermochte ich mit meinen Augen nicht zu sehen, während er den Kelch des Leidens trank. Wenn ihn jemand bat, an seinen Leiden teilhaben zu dürfen, antwortete er: „Wenn ich dir auch nur einen winzigen Teil meiner Leiden gäbe, würdest du, wie vom Blitz getroffen, auf der Stelle tot umfallen.“
Ich denke, dass niemand sein Geheimnis jemals bis auf den Grund erkennen und verstehen wird. Man wird bloß auf ihn verweisen können, als vorbildlichen Jünger Christi, der auf alles verzichtete und dabei nicht nur sein eigenes Kreuz, sondern auch das Kreuz der ganzen Welt auf sich nahm, das er vom gekreuzigten Herrn empfangen hatte.
(Mons. Pierino Galeone, geistlicher Sohn von Pater Pio; Aus dem Buch "Pater Pio, mein Vater")
"Ich aber will mich allein des Kreuzes Jesu Christi, unseres Herrn, rühmen, durch das mir die Welt gekreuzigt ist und ich der Welt." (Gal 6,14).
Wie der Apostel Paulus stellte Pater Pio von Pietrelcina das Kreuz seines Herrn als seine Kraft, seine Weisheit und seinen Ruhm in den Mittelpunkt seines Lebens und seines Apostolats. Entzündet von der Liebe zu Jesus Christus, gleicht er sich ihm an, indem er sich für das Heil der Welt opfert. In der Nachfolge und Nachahmung des gekreuzigten Christus war er so großzügig und vollkommen, dass er hätte sagen können: " Ich bin mit Christus gekreuzigt worden; nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir." (Gal 2,19). Und die Schätze der Gnade, die Gott ihm in einzigartiger Weise geschenkt hatte, verteilte er unaufhörlich durch seinen Dienst, indem er den Männern und Frauen diente, die in immer größerer Zahl zu ihm strömten, und eine unermessliche Schar geistlicher Söhne und Töchter zeugte.
Dieser würdige Nachfolger des heiligen Franz von Assisi wurde am 25. Mai 1887 als Sohn von Grazio Forgione und Maria Giuseppa De Nunzio in Pietrelcina in der Erzdiözese Benevento in Italien geboren. Er wurde am nächsten Tag auf den Namen Franziskus getauft. Im Alter von 12 Jahren empfing er das Sakrament der Firmung und der Erstkommunion.
Im Alter von 16 Jahren, am 6. Januar 1903, trat er in das Noviziat des Ordens der Kapuziner in Morcone ein, wo er am 22. desselben Monats die franziskanische Ordenstracht annahm und den Namen Fra Pio erhielt. Am Ende seines Noviziatsjahres legte er die einfachen Gelübde und am 27. Januar 1907 die feierlichen Gelübde ab.
Nach seiner Priesterweihe, die er am 10. August 1910 in Benevento empfing, blieb er aus gesundheitlichen Gründen bis 1916 bei seiner Familie. Im September desselben Jahres wurde er in das Kloster von San Giovanni Rotondo geschickt und blieb dort bis zu seinem Tod.
Erfüllt von der Liebe Gottes und der Nächstenliebe, lebte Pater Pio seine Berufung, zur Erlösung der Menschheit beizutragen, gemäß der besonderen Sendung, die sein ganzes Leben prägte und die er durch die geistliche Führung der Gläubigen, durch die sakramentale Versöhnung der Büßer und durch die Feier der Eucharistie umsetzte. Der Höhepunkt seines apostolischen Wirkens war die Feier der Heiligen Messe. Die Gläubigen, die daran teilnahmen, nahmen den Höhepunkt und die Fülle seiner Spiritualität wahr.
Auf der Ebene der sozialen Nächstenliebe bemühte er sich, den Schmerz und das Elend so vieler Familien zu lindern, vor allem durch die Gründung des "Casa Sollievo della Sofferenza" (Spital zur Linderung des Leids), das am 5. Mai 1956 eingeweiht wurde.
Für Pater Pio war der Glaube das Leben: Er wollte und tat alles im Lichte des Glaubens. Er widmete sich eifrig dem Gebet. Er verbrachte den Tag und einen großteil der Nacht im Gespräch mit Gott. Er pflegte zu sagen: "In Büchern suchen wir Gott, im Gebet finden wir ihn. Das Gebet ist der Schlüssel, der das Herz Gottes öffnet". Der Glaube führte ihn stets zur Annahme des geheimnisvollen Willens Gottes.
Er war immer in die übernatürliche Wirklichkeit eingetaucht. Er war nicht nur ein Mann der Hoffnung und des totalen Gottvertrauens, sondern er vermittelte diese Tugenden allen, die sich ihm näherten, durch Wort und Beispiel.
Die Liebe Gottes erfüllte ihn und erfüllte alle seine Erwartungen; die Nächstenliebe war das Leitprinzip seiner Zeit: Gott zu lieben und geliebt zu werden. Sein besonderes Anliegen: in der Nächstenliebe zu wachsen und wachsen zu lassen.
Seine Nächstenliebe drückte er dadurch aus, dass er über 50 Jahre lang viele Menschen empfing, die zu seinem Beichtstuhl strömten, um Rat und Trost zu finden. Es war fast eine Belagerung: Sie suchten ihn in der Kirche, in der Sakristei, im Kloster auf. Und er gab sich allen hin, erweckte den Glauben, verteilte die Gnade, brachte Licht. Aber besonders in den Armen, den Leidenden und den Kranken sah er das Bild Christi und gab sich besonders für sie hin.
Er übte die Tugend der Klugheit in vorbildlicher Weise aus, indem er im Lichte Gottes handelte und riet.
Sein Interesse galt der Ehre Gottes und dem Wohl der Seelen. Er behandelte alle mit Gerechtigkeit, Treue und großem Respekt.
In ihm blühte die Tugend der Tapferkeit auf. Er erkannte bald, dass sein Weg der des Kreuzes sein würde, und er nahm ihn mit Mut und aus Liebe an. Er lebte viele Jahre lang tiefe Leiden der Seele. Jahrelang ertrug er die Schmerzen seiner Wunden mit bewundernswerter Gelassenheit.
Als er sich in seinem priesterlichen Dienst Untersuchungen und Einschränkungen unterziehen musste, nahm er alles mit tiefer Demut und Resignation hin. Wenn er mit ungerechtfertigten Anschuldigungen und Verleumdungen konfrontiert wurde, schwieg er stets und vertraute auf das Urteil Gottes, seiner direkten Vorgesetzten und seines eigenen Gewissens.
Er pflegte die Busse, um die Tugend der Mäßigung zu erlangen, wie es dem franziskanischen Stil entsprach. Er war gemäßigt in seiner Mentalität und Lebensweise.
Er war sich der Verpflichtungen bewusst, die er im geweihten Leben eingegangen war, und hielt sich großzügig an seine Gelübde. Er war in allem gehorsam gegenüber den Anordnungen seiner Oberen, auch wenn sie beschwerlich waren. Sein Gehorsam war übernatürlich in der Absicht, universal in der Ausdehnung und ganzheitlich in der Ausführung. Er lebte den Geist der Armut mit völliger Loslösung von sich selbst, von irdischen Gütern, Bequemlichkeiten und Ehren. Er hatte eine große Vorliebe für die Tugend der Keuschheit. Sein Verhalten war überall und bei jedem bescheiden.
Er betrachtete sich als aufrichtig wertlos, unwürdig der Gaben Gottes, voller Elend und zugleich voller göttlicher Gunst. Bei so viel Bewunderung durch die Welt pflegte er zu wiederholen: "Ich möchte nur ein armer Bruder sein, der betet".
Seine Gesundheit war von Jugend an nicht sehr blühend und verschlechterte sich besonders in den letzten Jahren seines Lebens rapide. Er verstarb am 23. September 1968 im Alter von 81 Jahren, vorbereitet und gelassen. Seine Beerdigung wurde von einer ganz außergewöhnlichen Menschenmenge begleitet.
Am 20. Februar 1971, nur drei Jahre nach seinem Tod, sagte Paul VI. in einer Ansprache an die Oberen des Kapuzinerordens über ihn: "Seht, welchen Ruhm er erlangt hat, welche weltweite Menschenschar er um sich geschart hat! Aber warum? Vielleicht weil er ein Philosoph war? Weil er ein Weiser war? Weil er über Mittel verfügte? Weil er demütig die Messe feierte, von morgens bis abends Beichte hörte und, schwer zu sagen, ein Abbild unseres gekreuzigten Herrn war. Er war ein Mann des Gebets und des Leidens".
Pater Pio wurde am 2. Mai 1999 von Johannes Paul II. seliggesprochen und am 16. Juni 2002 vom selben Pontifex heiliggesprochen.